Kommentar von Albert Brandstätter
Freitag spät abends bei einem Geburtstagsfest einer guten Freundin: die Nachrichten aus Paris stürzen in all ihrem Entsetzen herein. Wie bei 9/11 werden die Augenblicke, da die Bilder auf mich hereinströmten, immer in meinem Gedächtnis bleiben, wie bei so vielen anderen schockierten, traurigen, um Fassung ringenden Menschen auch.
Aber dann auch die anderen Bilder, die in den nächsten Tagen ihren Ausdruck in allen möglichen Medien fanden: Je suis Paris, die Erinnerung an die Trinität der Revolution „Freiheit, Gleichheit und Mitmenschlichkeit“, der Eiffelturm als Symbol des Friedens, Gesichter hinter den Farben der Trikolore…bildgewordener Ausdruck des Mit-Trauerns, des Zusammenstehens, und des Aufstehens gegen Gewalt.
Vor vielen Jahren haben unsere neue Kollegin in der Bundesgeschäftsstelle Regina Senarclens de Grancy und ich in ganz anderem Zusammenhang in Graz eine Tagung für Friedensgruppen aus dem schon beinahe ehemaligen Jugoslawien organisiert, um sie auf neutralem Boden zusammenzubringen. Sie hatte den Titel „Sarajewo mon amour“ in bewusster Anlehnung an den großartigen Film „Hiroshima mon amour“.
Sarajewo war in den 1990er-Jahren das zweite Mal das Fanal, das tragische Symbol für politisches Versagen, für entsetzliche Gewalt für Terror, Verzweiflung, aber auch für interkulturelles und interreligiöses Zusammenleben und Hoffnung. Das was Sarajewo im 20. Jahrhundert war, könnte Paris 2015 für Europa im 21. Jahrhundert werden.
Wir werden uns immer deutlicher und mit immer größerem Schrecken bewusst: Rund um Europa herrscht Krieg. Es ist ein Krieg der der postkolonialen Regionen, der elektronischen Medien, der transnationalen Netzwerke – aber auch der sich selbst überlassenen Vorstädte. Er zieht verzweifelt Suchende, religiös Ungebildete, ökonomisch am Rand Stehende in seinen Bann.
Wir können nicht nicht hingehen, sondern müssen damit umgehen, dass er zu uns kommt. Und dem können wir nicht mit Kriegsrhetorik und martialischem Geschrei, sondern nur mit ziviler Festigkeit und Größe, nicht mit Angst, sondern mit Offenheit und Leidenschaft für „die anderen“, bei aller nötigen Vorsicht mit der Kraft von Beziehungen, ja, so seltsam es klingen mag, mit Liebe begegnen.
Gewiss, wir brauchen nun europäische Regierungen, die die Schwäche der nationalstaatlich zersplitterten EU überwinden. Wir brauchen bei uns politisch Verantwortliche, die in Österreich das dilettantische Agieren gegenüber Flüchtlingen sein und außen an den Grenzen die Profis des Verteidigungsministeriums statt der Nicht-Profis des Innenministeriums arbeiten lassen. Wir brauchen Regierungen, die Festigkeit vermitteln und gleichzeitig weiterhin an der Offenheit unserer Gesellschaften festhalten. Brücken statt Festungen werden gebraucht. Das bedeutet zum Beispiel auch, endlich die zugesagten Gelder für die Flüchtlingsstädte rund um Europa zu überweisen.
Aber wir brauchen – und haben! – auch eine Zivilgesellschaft, die sich vom rechten Drittel der Bevölkerung nicht schrecken lässt (und das sei den Wahlwerbenden ins Stammbuch geschrieben), sich für asylwerbende notleidende Menschen, die genauso Opfer der Gewalttaten sind, öffnet und sie willkommen heißt. Und Offenheit, Anerkennung und Willkommen-heißen – das sind die Voraussetzungen dafür, dass Menschen bei uns leben können, dass sie ihren Platz im Leben finden können, dass Inklusion auch für sie kein Fremdwort bleibt. Und wenn viele von ihnen dereinst einmal zurückkehren in ihre Länder, dann können sie die Saat dessen säen, was sie bei uns erfahren haben.