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In Memoriam Dr. Maria Bruckmüller (29.1.1926 – 18.10.2023)

Von 23. Oktober 2023 Keine Kommentare
Foto der ehemaligen Präsidentin der Lebenshilfe Österreich Frau Dr. Maria Bruckmüller.
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In Memoriam Dr. Maria Bruckmüller (29.1.1926 – 18.10.2023)

Von 23. Oktober 2023 Keine Kommentare

Ein Nachruf von Univ.-Prof. Dr. Germain Weber, Ehrenpräsident der Lebenshilfe Österreich und von 2004-2022 Präsident der Lebenshilfe Österreich, für die Lebenshilfe Österreich.

Heute haben wir die sehr traurige Nachricht, den kürzlichen Tod von Frau Dr. Maria Bruckmüller mitzuteilen. Frau Bruckmüller ist am 18.10. friedlich im Alterswohnhaus der Barmherzigen Brüder Kritzendorf bei Klosterneuburg im 98. Lebensjahr für immer entschlafen. Maria Bruckmüller war nicht nur über Jahrzehnte mit der Lebenshilfe Österreich verbunden, deren erste Präsidentin sie von 1989 bis 1996 war, und zu deren Ehrenpräsidentin auf Lebenszeit sie anschließend ernannt wurde, sondern sie war noch vielmehr: eine Pionierin und Visionärin sowie unermüdliche Kämpferin für eine gerechtere Welt für Menschen mit Lernschwierigkeiten bzw. intellektuellen Beeinträchtigungen.

Maria Bruckmüller, ursprünglich ausgebildet als Religionslehrerin, unterrichtete ab Mitte der 1950ger Jahre an der damalig neugegründeten Wiener Sonderpädagogischen Schule für Schwerstbehinderte, Paulusgasse 9 unter Direktor Karl Ryker. An diesem Ort lernte sie früh die Not der Eltern kennen, die sich fragten, was wohl aus ihren Kindern werden würde, wenn einmal die Pflichtschulzeit vorbei ist. So konnte sie 1961 vor Ort die Gründung der Lebenshilfe Wien mitverfolgen, ein Selbsthilfeverein von Eltern, der damals eine erste geschützte Werksstätte für Jugendliche mit intellektuellen Behinderungen für die Zeit nach der Schule gründete.

In ihren Jahren an der Sonderschule Paulausgasse studierte Maria Bruckmüller berufsbegleitend an der Universität Wien Psychologie und Pädagogik mit dem Schwerpunkt Heilpädagogik und schloss im Jahr 1965 mit dem Doktorat in Philosophie im Hauptfach Psychologie ab. Mit dieser Qualifikation zog es Dr. Bruckmüller ab 1966 nach Kärnten, wo sie bis 1979 als Psychologin und Heilpädagogin an der Heilpädagogischen Station des Landeskinderkrankenhauses Klagenfurt in Kärnten tätig war. Von hier aus erfolgten erste Studienbesuche in Behinderteneinrichtungen in osteuropäischen Ländern, zuerst in Ungarn später auch Rumänien. Diese frühen beruflichen Auslandserfahrungen sollten mitentscheidend für ihr weiteres beachtliches internationales Wirken zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen werden.
Von Klagenfurt führte der Weg zurück nach Wien, wo sie ab 1979 bis zu ihrer Pensionierung 1987 die pädagogische Leitung der Lebenshilfe Wien innehatte, eines Vereins, dessen Strukturen und Dienstleistungsangebote für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und für deren Familienangehörigen in der Zwischenzeit stetig gewachsen war. In ihrer Tätigkeit setzte Maria Bruckmüller neue Akzente in der Weiterentwicklung einer umsichtigen Betreuungs- und Förderungsarbeit für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen, welche von einer Vision gleichberechtigter Ansprüche und Rechte dieser Menschen geprägt war. Nach ihrer Auffassung sollte die pädagogische Arbeit dazu beitragen, junge Menschen mit Behinderungen Schritt für Schritt in einer autonomen Lebensführung zu stärken. Dabei verwies sie sehr früh auf Chancenungleichheiten von Menschen mit intellektuellen Behinderungen bzw. Menschen mit komplexen Behinderungen und hohem Unterstützungsbedarf. In der Lebenshilfe Wien baute sie den Austausch und die Unterstützung von Projekten in osteuropäischen Ländern aus. Weiter engagierte sie sich in der Internationalen Liga der Vereinigungen von Eltern mit Kindern mit intellektuellen Behinderungen, heute als Inclusion International bekannt. In dieser Liga gründete Maria Bruckmüller den Arbeitskreis „Altern mit geistiger Behinderung“. Mit ihren Beiträgen und Publikationen zu dieser Thematik erreichte sich rasch hohe internationale Visibilität und zählte zu den hoch respektierten internationalen Pionier*innen in diesem Feld, dies zu einer Zeit wo das Thema „Alt werden mit intellektueller Behinderung“ noch lange kein etabliertes Thema war.

Die Autorität, die sich Maria Bruckmüller mit ihrem hohen Engagement und breitem fachlichen Wissen in diesem Feld erarbeitet hatte, führte 1989 zur Position der ersten Präsidentin der Lebenshilfe Österreich. Mit großem Elan entwickelte sie erfolgreich neue Strukturen zur Kooperation zwischen den regionalen Vereinen der Lebenshilfen. Auf nationaler Ebene führte sie einerseits pädagogische Fachtagungen ein mit dem Ziel gleichwertige Qualitätsstandards in der Betreuungsarbeit der autonom agierenden, regionalen Lebenshilfen sicherzustellen und anderseits sozialpolitische Fachtagungen mit prominenten nationalen und internationalen Rednern*innen. Grundsatzpapiere wurden entwickelt mit dem Ziel, die Interessensvertretung des Verbandes auf der Ebene der Bundespolitik zu stärken und mit Kompetenz den dringenden gesellschaftlichen Änderungsbedarf in der Behindertenpolitik anzusprechen. Dabei setzte Maria Bruckmüller sehr früh auf die Stimme der Menschen mit Behinderungen selbst. Dies führte im Jahre 1994 zum ersten Kongress der Lebenshilfe Österreich, der für Menschen mit „geistiger“ Behinderung organisiert wurde, und in dem erstmals Bedarfe und Wünsche aus der Sicht der Betroffenen systematisch gesammelt wurden. Heute zählen die im zweijährigen Rhythmus veranstalteten sogenannten Selbstvertreter*innen Kongresse der Lebenshilfe Österreich zum Standard und werden oft mit breiter nationaler oder internationaler Beteiligung durchgeführt. Einer der internationalen Akzente, die Frau Bruckmüller in der Zeit ihrer Präsidentschaft setzte, ist der auf ihre Initiative zurückzuführende, ab 1992 stattfindende jährliche Austausch zwischen den Schwesterorganisationen der deutschsprachigen Lebenshilfen Deutschland, Südtirol, der Schweiz und Österreich sowie Luxemburg, welches seit 2004 in diesem Kreis mitwirkt. Die Kooperation zwischen der Lebenshilfe Österreich und Inclusion Europe, der 1988 gegründeten europäischen Interessensvertretung gegenüber der EU-Kommission und den EU-Behörden in Brüssel, geht auf ihre Anregung zurück.

Vor dem Ablauf ihrer Präsidentschaft setzte sie sich in den Gremien der Lebenshilfe Österreich erfolgreich dafür ein, dass die Vorstandsmitgliedschaft, die traditionell an eine aktive Mitgliedschaft bei einer der Landeslebenshilfen gebunden war, sich auch für Expert*innen bzw. angesehene Persönlichkeiten aus der Forschung öffnen sollte. Hierdurch sollte, wie Frau Bruckmüller zu sagen pflegte, „neuer Wind“ die Lebenshilfe beleben.

Auch nach ihrer Präsidentschaft ist Frau Bruckmüller der Lebenshilfe Österreich als hoch engagierte Ehrenpräsidentin auf Lebenszeit treu geblieben. So hat sie noch viele Jahre manche Vertretungen in internationalen Gremien für die Lebenshilfe wahrgenommen. An Tagungen bzw. Generalversammlungen der Lebenshilfe hat sich Frau Bruckmüller bis ins hohe Alter regelmäßig mit klugen und aufklärerischen Worten gemeldet und es nicht verabsäumt, die Versammelten mit mahnenden Worten aufhorchen lassen.

Noch im deutlich fortgeschrittenen Alter von ca. 75 Jahren startete Frau Dr. Bruckmüller eine weitere berufliche ehrenamtliche Tätigkeit als Beraterin und Kommunikationsexpertin in der damals neu eröffneten Behindertenambulanz des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder in Wien. Als sie mir mit großer Freude von diesem Projekt und ihren dortigen Tätigkeiten erzählte, meinte sie nicht ohne Stolz: „Stell dir mal vor, an meiner neuen Stelle wurde ich nun erstmalig in meinem Leben mit einem Diensthandy ausgestattet.“

Möglicherweise war ein letzter aktiver Beitrag von Frau Dr. Bruckmüller jener an der Fortbildungsveranstaltung der Akademie für Sozialmanagement in Wien vom 14. Januar 2020, mit dem Thema „Im Wissen um das Gestern die Zukunft gestalten“. Quasi bis zum letzten Atemzug war Maria Bruckmüller im Einsatz für Menschen mit Behinderungen tätig.

Neben all ihren Arbeiten zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen pflegte Maria Bruckmüller ebenso unermüdlich weitere Interessengebiete bzw. Hobbies. Erwähnt seien hier nur ihr langjähriges Hobby anspruchsvolle Kulturreisen für eine renommierte Kulturreiseagentur zu planen und zu leiten oder ihre langjährige Tätigkeit als Organistin in der St. Johann-Nepomuk Kapelle in 1090 Wien.

Von Politik und Gesellschaft wurde Frau Dr. Bruckmüller für ihre vielfältigen Leistungen mit Preisen oder Auszeichnungen geehrt, wie beispielsweise mit dem Hans-Asperger-Preis der Österreichischen Gesellschaft für Heilpädagogik (1988), dem „Lifetime-Achievement Award“ der EASPD (Brüssel), dem Goldenen Verdienstkreuz der Republik Ungarn (Budapest) und dem Goldenen Doktorat der Universität Wien (2015).

Mit Maria Bruckmüller verlieren die Lebenshilfe und die österreichische Gesellschaft eine unermüdliche Fürsprecherin für Menschen mit Lernschwierigkeiten bzw. intellektuellen Beeinträchtigungen, eine umsichtige Kämpferin für soziale Gerechtigkeit in unseren Gesellschaften in Österreich, Europa oder anderswo auf der Welt.

Marias Vermächtnis ist u.a. ihr bemerkenswerter, positiver Einfluss auf die Entwicklungen im Bereich einer würdevollen Begleitung und Förderung von Menschen mit intellektuellen Behinderungen und deren Platz in der Gesellschaft. Wir können stolz darauf sein, dass die Lebenshilfe über Jahrzehnte eine ihrer Plattformen war, durch die sie sich unermüdlich und einfühlsam für diese Menschen einsetzen konnte.

Ihren regen Geist, ihre fundierten Ansichten und ihr niemals endendes Engagement werden wir sehr vermissen.

Univ.-Prof. Dr. Germain Weber
Ehrenpräsident der Lebenshilfe Österreich
Präsident der Lebenshilfe Österreich 2004*-2022

*Es war Maria Bruckmüller, die mich 1996 für die Vorstandsposition des Vizepräsidenten bei der Lebenshilfe Österreich angesprochen hat und als deren Präsident ich im Jahr 2004 gewählt werden sollte.